Es war der 22. März 1897 als mein Urgroßvater Otto die offizielle Mitteilung erhielt:
Sehr geehrter Herr Otto W.
Kraft meines Amtes erkläre ich Sie hiermit für unregierbar.
Gezeichnet
Wilhelm I., Kaiser
Stand auf dem gelben Pergament in lapidaren Worten geschrieben. Darunter das herrschaftliche Siegel.
Schon ein paar Tage zuvor hatte das Auswärtige Amt in Berlin eine Reisewarnung ausgegeben und ihn etwas später sogar zur Gefahrenzone erklärt. Urgroßvater Otto war verzweifelt. Selbst an der Börse wurde er nicht mehr gehandelt. Bei einem langen Spaziergang entlang der Wupper fasste er einen Entschluss: Er würde springen. Just an diesem Tag hatten Arbeiter die letzte der rund 950.000 Nieten in die Müngstener Brücke geschlagen. Jetzt war das Richtfest vorbei und alle Arbeiter auf dem Heimweg. Die Brücke, ein 107 Meter hohes stählernes Ungetüm, das mit seinem gewaltigen Bogen das Tal zwischen Solingen und Remscheid überspannte, lag verlassen vor ihm.
Es dauerte einige Zeit, bis er oben war, denn alles an meinem Urgroßvater war rund, sehr rund – Der Kopf, der Körper, die kurzen, dicken Beine, die Arme, einfach alles. Man könnte auch sagen, er war in alle Richtungen gleich groß. Und wenn er in seinem langen schwarzen Gehrock aus dem Haus trat, dann hoppelte er mit kleinen Trippelschritten wie ein Ball auf einer unebenen Straße. Dabei vibrierten die gerade nach oben ragenden Enden seines wilden Kaiser-Wilhelm-Bartes wie Antennen, die mitten im Sturm schwere Nachrichten empfangen. Doch jetzt auf der Brücke stand er ganz still. Nichts vibrierte außer seinen Gedanken. Aber sein Entschluss stand fest. Mühsam erklomm er das Geländer der Brücke, schloss seine Augen und sprang.
Im Flug lief sein Leben noch einmal rückwärts an ihm vorbei: Die Nachricht der Unregierbarkeit, sein Aufstieg zur Freihandelszone, wie er als kleines rundes Kind Abhänge hinunter gekugelt ist, über einen Stein rollte und oben in einer Baumkrone landete, der Moment seiner Geburt. Exakt in dem Moment, in dem er das Licht der Welt erblickte, schlug er auch auf der Erde auf….und…. sein Leben lief noch einmal vorwärts an ihm vorbei. Der Moment seiner Geburt, wie er in einer Baumkrone landete, weil er als kleines rundes Kind den Abhang hinunter über einen Stein gerollt war, sein Aufstieg zur Freihandelszone, die Nachricht der Unregierbarkeit, wie er auf der Brücke steht. Urgroßvater Otto schlug die Augen wieder auf und sah zu seiner Überraschung, dass er sich schon wieder annähernd auf Höhe des Brückengeländers befand, bevor sich sein Körper wieder auf den Weg nach unten machte.
Und da fiel ihm wieder ein, was seine Mutter sagte, nachdem man ihn aus der Baumkrone gerettet hatte. Sehr eindringlich hatte sie ihn damals gewarnt: „Pass auf, wenn du springst, Otto. Du bist nicht wie die anderen Kinder. Spring nicht aus großer Höhe.“ Da er aber so oder so nicht zu hohen Sprüngen oder überhaupt zu Bewegung neigte, vergaß er die Warnung schnell. Erst jetzt fiel sie ihm wieder ein. Deshalb lag er also nicht wie eine aufgeplatzte Tomate unter der Brücke, sondern hüpfte munter vor sich hin. Urgroßvater Otto war ein Flummimensch.
Man kann es nun glücklich nennen, dass er diese Erfahrung machte, als er vom höchsten Bauwerk sprang, das Solingen zu bieten hatte. Immerhin kam er so mit seinem Leben davon. Man kann es aber auch etwas unglücklich nennen, dass er diese Erfahrung machte, als er vom höchsten Bauwerk sprang, das Solingen zu bieten hatte. Denn noch die ganze Nacht hindurch hüpfte Urgroßvater Otto kreuz und quer durch das bergische Land. Immer wieder titschte er von den sanften Hügeln, die die Landschaft durchzogen, ab, gewann so neuen Schwung, tuschierte mehrere Gebäude – glücklicherweise ohne größere Schäden anzurichten – und kam schließlich in den frühen Morgenstunden in einem Vorgarten in Solingen-Wald leicht hubbelnd zur Ruhe.
Der Vorgarten gehörte im Übrigen der jungen Witwe Adele B., die später dann meine Urgroßmutter wurde. Aber das ist eine andere Geschichte, die später noch erzählt werden muss….