„Weißt du warum ich immer in Fahrtrichtung sitzen will?“ Umständlich verstaue ich unsere Rucksäcke im Gepäcknetz. „Nö“, um sieben Uhr morgens war ich auch nicht sicher, ob es mich schon interessierte. Vor zehn Uhr dümpelt mein Biorhythmus in der Regel wie eine Jolle bei Windstille dahin. Aber sie war so aufgeregt wie immer, wenn wir mit dem Zug verreisen. Unaufhörlich plappernd klappte ihr Mund wie bunte Schmetterlingsflügel auf und zu. „In Fahrtrichtung schaue ich nach vorne und freue mich auf das, was kommt. Gegen die Fahrtrichtung schaut man nur zurück und ist traurig über das, was man verlässt.“
Kurz zuvor hatten wir noch schweigend auf dem Bahnhofsvorplatz in Köln gestanden. Die Phase der Ruhe hatte sie mir gegönnt, obwohl es ihr schwer fiel. Ich merkte, wie sie unruhig von einem Bein auf das andere trat, während ich bei meinen eigenen Gedanken im Mustöpfchen saß und eine Zigarette rauchte. Da sind so viele Worte in der Frau. Kleine Satzperlen die unbedingt hinauskullern wollen. Aber man kann ja nicht immer am Leben teilnehmen, es muss ja auch Zuschauer geben. Ich bin gerne Zuschauer. Ein junges Pärchen kam Hand in Hand in der Morgensonne auf uns zu. Businessdress. Er: Blaue Hose, hellblaues Hemd, das Sakko lose über den Arm und das betonharte Haar glatt wie eine Bundesautobahn nach hinten gelegt. Immerhin hatte er ein freundliches Gesicht. Sie: Sein weibliches Pendant ohne das freundliche Gesicht, dafür aber mit weißer Perlenkette. Eine Empörerin, die mit spitzem Mündchen und verkniffenen, kleinen Augen vehement auf ihn einredete, während sie auf ihren hohen Schuhen neben ihm her trippelte. Früh morgens denkt mein Hirn manchmal ungefilterte Dinge. „Lauf Junge, lauf so schnell du kannst, sonst wirst du nicht mehr viel Spaß im Leben haben“.
Gerade als ich mich fragte, warum ich das gedacht habe, wo mir das Businesspärchen doch egal sein könnte, kreuzten die Beiden hinter zwei in ein Gespräch vertieften Frauen her. Die eine, nicht unattraktiv, aber zu dürr, um erotisch zu sein, schaute besorgt drein. „Ich habe ihm dann auch gesagt, du musst es ihr mal sagen, das kann ja so nicht weitergehen“ „Pfff“, die andere so rustikal wie eine Schrankwand, hat nur darauf gewartet dazwischen zu kommen, „Ich sag dir mal, was da los ist“, die Schrankwand machte eine Kunstpause und zog an ihrer Zigarette, „das ist ein ganz durchtriebenes Stück, auf der einen Seite die Mutter mit ihrem neuen Freund und auf der anderen der Vater mit seiner neuen Frau. Die bekommt doch von allen Seiten den Zucker in den Arsch geblasen. Wenn die nicht aufpasst, dann landet die ganz schnell…“
Ich hätte jetzt schon gerne gewusst, wo das junge Mädchen mit dem Zucker im Arsch landet, aber ein Backpacker, Typ alternativer Teeverkäufer mit Nickelbrille und angegrautem lockigen Haar, quatscht uns von der Seite an. „Das ist aber eine ganz schöne Wüste hier“. Vielleicht war er nur ein bisschen lange alleine unterwegs und freute sich, mit jemandem zu reden. Ist mir auch schon passiert, nur dass ich nie jemanden angequatscht hätte. Die Holde verdrehte die Augen, als ich freundlich sagte, „Na ja, ist ja auch noch früh, wenn erst mal mehr Menschen hier sind, ist es nicht mehr so leer“. Sie kannte mein Talent, alle Arten von Spinnern und Dummschwätzern geradezu magisch anzuziehen. Natürlich war auch das wieder eine Falle. Schon säuselte der alternative Teeverkäufer mit einer Stimme, die weich wie warme Butter schmierig in der Luft zerfloss, „So viel Sand und so wenige Spuren. Es ist gut, wenn man keine Spuren hinterlässt.“ Och nö, komm bitte. „Die Menschen hinterlassen immer Spuren beim Tanzen im Sand. Sie tanzen nach Regeln, die ich nicht kenne. Das schafft Freiheit, wenn man die Regeln nicht kennt“. Mein Versuch durch unbeteiligtes Gucken, das Gespräch zu beenden, blieb natürlich erfolglos. „Da ist seit einiger Zeit auch eine tiefe Wüste in meinem Kopf…“. Augenscheinlich. Die Holde zupfte ungeduldig an meinem Ärmel. „Hast du aufgeraucht? Können wir endlich gehen?“
„Meine Damen und Herren in wenigen Augenblicken erreichen wir den Bahnhof in Meppen“. Scheinbar gibt es keine Anschlusszüge in Meppen. Wozu auch? Es gibt Orte, die sind besonders schön, weil man daran vorbeifährt. Die Holde blitzt mich spitzbübisch an. „Da fällt mir ein, hast du den Ozelot gefüttert, er frisst sonst wieder die Couch auf, wenn wir so lange weg sind?“ Guter Aufschlag, meine Liebe! „Nein, aber ich habe die Couch auf die Terrasse gestellt“ „Mein Gott, hörst du mir wenigstens einmal zu. Ich habe dir schon hundert Mal gesagt, nicht die Couch auf die Terrasse. Erst vorgestern ist der Topf mit den Hortensien im Bodennebel verschwunden und nicht wieder aufgetaucht“ Der Mann am Vierertisch gegenüber macht uns die Freude und guckt irritiert. „Ach, der Hortensientopf. Hör mir doch auf mit dem alten Filou. Vorige Woche habe ich ihn erwischt, wie er der Rose an den jungen Knospen knuspern wollte. Wahrscheinlich hat er sich nur hinten in den Rabatten versteckt und sieht den Primeln heimlich beim Entblättern zu“. „Ja ja, die Rabatten. Weißt du noch wie im Frühjahr die Mützenzwerge Verstecken in den Rabatten gespielt haben. …“
Weiter kommen wir leider nicht. Unsere Aufmerksamkeit wird ganz von einem Rentnerehepaar beansprucht, das sich in der Sitzreihe hinter uns einrichtet. „Hier ist aber schmutzig! Guck mal Jochen. Das ist aber gar nicht schön. Das hätte die Bahn aber auch mal sauber machen können“, Jochen sagt nix. Ist auch besser so, denn die Alte zetert ohne Unterlass weiter. „Jetzt sitzen wir auch noch so weit hinten. Das ist aber immer laut, wenn die Tür aufgeht. Jochen wo sind denn die Butterbrote?“ Während Jochen eine leise Antwort murmelt, muss ich an das Businesspärchen von heute Morgen denken, die beiden scheinen aus einem Zeittunnel 50 Jahre älter direkt in den Zug gefallen zu sein. „Dann hol die Brote mal aus dem Koffer wieder raus, du hättest ja gleich mitdenken können“. Jochen steht wortlos auf und hievt den schweren Koffer aus dem Gepäcknetz. Ein distinguierter, älterer Herr im typisch beigen Renterfreizietschick. Das Leben hat tiefe Falten in seinem Gesicht hinterlassen, aber sein Blick ist noch immer wach – auch wenn er jetzt stummen Widerstand ausdrückte. „Um Jochen muss man sich keine Sorgen machen“, meinte die Holde, die die Szene sehr genau verfolgt hatte, „Eines Tages wird er an ihrem Grab stehen und ungebrochen „Mach doch selber“, sagen“. Doch vorerst blieb ihm nur sein kraftvolles Schweigen, denn kaum saß er, ging es wieder los. „Da hättest du auch ein bisschen weniger Butter drauftun können“ und nach kurzer Stille, „Die Sonne stört auch, wenn sie so durch das Fenster scheint“.
Der letzte Spruch erboste die Holde sichtlich. Auf ihrer Stirn zeigte sich diese pittoreske Zornesfalte, über die man aber auf gar keinen Fall sagen darf, dass man sie pittoresk findet. „Jetzt hat sie auch noch was gegen die Sonne. So eine garstige Alte. Da siehst du mal, was du für ein Glück mit mir hast“. Aber das bekam ich nur noch am Rande mit. Langsam dämmerte ich dahin und sah zu wie die Natur am Zugfenster vorbeiflog. Irgendwie hatte die Holde recht. Wenn man rückwärtsfährt, dann hat man das Gefühl alles nur von hinten zu sehen.…