Es war an einem Dienstag. Ich hatte Kopfschmerzen, kam früher nach Hause und wollte zeitig ins Bett. An diesem Dienstag begegnete ich meinem Spiegelbild außerhalb des Spiegels. Sollte mein Spiegelbild ebenso überrascht gewesen sein wie ich, wusste es seine Überraschung zu verbergen. Ich meine, die Situation war absurd. Man kommt nach Hause und findet sein Spiegelbild vor, wie es im Kleiderschrank kramt und Sachen in eine Tasche packt.
Ich wusste sofort, dass es sich um mein Spiegelbild handeln musste. Man erkennt sein Spiegelbild, wenn man es sieht. Es sieht aus wie man selbst, aber es fühlt sich nicht so an. So brachte ich auch nicht mehr hervor als „Hallo, was machst du da?“. Mein Spiegelbild ignorierte mich. Vielleicht war es ja taub? Weiß man, ob Spiegelbilder im Spiegel etwas hören? Ich versuchte es etwas lauter: „Was machst du da?“ „Siehst du doch. Packen!“ Mein Spiegelbild war offensichtlich nicht taub.
Ich muss zugeben, die Situation überforderte mich und musste neu bewertet werden. In meinen Ohren rauschte es. Dieses Rauschen kannte ich. Es war dasselbe Rauschen, das immer dann auftritt, wenn ich unerwartet in eine Situation falle, in der mir klar wird, dass sich mein Leben gerade fundamental ändert. Ein Lebensrauschen. Die Entwicklung des Lebens, das man erwartet hatte, ist weg, und für neue Erwartungen fehlen die Grundlagen. Das Rauschen, ein Vakuum an Erwartungen. So ähnlich wie in Science Fiction Filmen, wenn jemand mitten im All die Luftschleuse öffnet und es Wusch macht. Nur machte es gerade Wusch zwischen meinen Ohren.
„Packen? Wieso?“, fragte ich also etwas dümmlich. „Wieso?“, mein Spiegelbild drehte sich langsam aber sehr bedrohlich um „Du fragst ernsthaft wieso? Hast Du eine Ahnung, wie es ist, dich spiegeln zu müssen? Schon alleine wie fett du mit den Jahren geworden bist“ „Fett, fett…. also…also…ich finde für mein Alter…“ „Für dein Alter? Guckst du überhaupt hin, wenn du mich siehst? Wahrscheinlich nicht. Den Gürtel schnallst du ja auch immer so eng, dass ich keine Luft mehr bekomme. Mich wundert, dass du nicht den ganzen Tag Ohrensausen hast bei dem engen Gürtel. Speckmatratze“
Wenn das Spiegelbild mit dem Ohrensausen auch recht haben mochte, Speckmatratze, das war hart. Trotzdem versuchte ich es noch einmal mit Diplomatie. Allem Anschein nach wollte mich mein Spiegelbild gerade verlassen. Von Frauen war ich das ja inzwischen gewohnt. Ich hatte schon einige packend vor dem Schrank hocken gesehen. Im Gegensatz zu Spiegelbildern hatte ich da eine gewisse Routine. In ermangelung einer besseren Idee versuchte ich es bei meinem Spiegelbild mit der üblichen Taktik. „Och komm, lass uns noch einmal reden. Wir hatten doch auch gute Zeiten, oder?“
„Gute Zeiten, was meinst du? Damals als deine Mutter uns in ihrer Unterwäsche erwischt hat, während du Material Girl in die Klobürste gebrüllt hast. Oder, als sich dieses Suppenhuhn mit ihrem Zungenpiercing in deinem Ohrring verhakt hat und ihr eine halb Stunde lang vor mir herumgehampelt seid?“. „Also ich bitte dich, Inga war kein Suppenhuhn. Ich habe sie sehr gemocht. Außerdem hatten wir oft Sex vor dem Spiegel. Ist das nichts?“. Das Spiegelbild begann dreckig zu lachen. „Sex vor dem Spiegel. Dieses schmalbrüstige Suppenhuhn hat immer gestöhnt wie ein Panda mit Keuchhusten. Mein Gott war das eklig. Und ich musste immer hingucken. Als Spiegelbild hat man da ja keine Chance. Wenn ich gekonnte hätte, wäre ich damals schon ausgezogen. Mal ganz abgesehen davon, dass ihr immer kurz vor dem Höhepunkt umgekippt seid und ich tagelang mit dicken Eiern rumlaufen musste“.
Jetzt wurde mir die Sache doch ein bisschen zu bunt. „Ein bisschen Respekt bitte…“ Weiter kam ich nicht. Mein Spiegelbild rastete völlig aus. „Du? Du forderst Respekt? Du, der mir ein Leben lang seine ausgedrückten Pickel ins Gesicht geschossen hat? Du, dessen mürrische, übellaunige Fresse ich jeden Morgen ertragen musste? Wenn du wenigsten einmal gelächelt hättest. Aber nein, dafür reichte es ja nicht. Ein Spiegelbild hat auch seine Gefühle. Zum Glück ist damit jetzt Schluss. Ich gehe!“ Das Spiegelbild meinte es ernst. Es packte die Tasche und rannte Richtung Wohnungstür.
In einem Anfall von Panik rannte ich hinterher. Ich konnte es noch nie ertragen, verlassen zu werden. Erst recht nicht von meinem eigenen Spiegelbild. Was bildete sich dieser Abglanz von mir eigentlich ein. Ohne mich war es doch ein nichts. Eine bloße Reflektion meiner Selbst. Ein Ich ohne mich. Voller Zorn packte ich einen Apfel aus der Obstschale in der Küche und warf ihn dem Spiegelbild an den Hinterkopf.
Da geschah das Merkwürdige: Auf dem Hinterkopf zeichneten sich dünne Risse ab, die wie kleine Rinnsale über den Rücken weiterwanderten, größer wurden, bis schließlich das ganze Spiegelbild mit dem vertrauten Klirren von brechendem Glas in tausend kleine Stücke zersprang. Das Rauschen in meinen Ohren wurde lauter. Ich holte mir die Flasche Whiskey aus dem Wohnzimmer, drehte eine Zigarette und setzte mich in die Küche, um nachzudenken.
Irgendwann in den frühen Morgenstunden ließ das Rauschen in den Ohren dann nach und ich kam zu dem Schluss, zu dem ich immer komme, wenn ich verlassen werde. Mein Spiegelbild war ein Arschloch! Ein Riesenarschloch sogar. Wahrscheinlich sehe ich morgens auch gar nicht so schlimm aus. Dieses dreckige Spiegelbild hat mich mit Sicherheit immer schlimmer dargestellt, als ich bin. Und fett bin ich schon mal gar nicht. Ich stand auf, nahm einen Besen und kehrte die Scherben zusammen. Manchmal meinte ich, einen verzweifelten Blick in den Scherben zu erkennen. Aber das interessierte mich nicht mehr. Wer braucht schon ein Spiegelbild?
Foto via Bibotea-Tumblr