Der König der Schiffsschaukelbremser

Der König der Schiffsschaukelbremser

Die Vergangenheit ist für mich schwarz-weiß mit einem Gelbstich. Einfach weil alte Fotografien immer schwarz-weiß mit einem Gelbstich sind. So, wie die von meiner Großmutter und meinem Großvater vor der großen Schiffsschaukel in dem kleinen Vergnügungspark im Tal. Heute ist es ein Vergnügungspark mit Märchenwald. In die große Halle am Rand des Teiches haben sie einen Indoor-Spielplatz gebaut. Damals war die große Halle ein berüchtigtes Tanzlokal inmitten eines bunten Rummels, der sich rund um den kleinen Teich erstreckte. An Wochenenden flanierten hier die jungen Leute an den Karussells, Wahrsagerbuden und der großen Schiffsschaukel vorbei. Der Park war prall voll von der Lebenslust der leichten Mädchen, die die jungen Kerle mit den starken Armen bis zur Weißglut reizten, der Snobs mit ihren schmalen Bärtchen, die die neuste Mode spazieren führten und der Arbeiter und Arbeiterinnen, die dem dumpfen Trott der Gesenkschmiede oben auf dem Berg für 48 Stunden entkommen waren. Abends spielte eine Band auf der Bühne der großen Halle. Dann füllte sich unten der Tanzsaal und im Laufe des Abends hielten sich die tanzenden Paare immer enger umschlungen, bis sie schließlich leise in einer dunklen Ecke des Parks verschwanden. Das Gewerbe der Engelmacherinnen florierte zu dieser Zeit in der Stadt und eine ungewollte Schwangerschaft wurde auch mit „sie ist ins Tal gegangen“ umschrieben.

An einem heißen Sommertag in den 20ern machte sich auch meine Großmutter Gustel in ihrem leichten, geblümten  Kleid auf den Weg in den Park. Sie musste schon früh am Nachmittag losgehen, denn der Weg aus dem benachbarten Wuppertal bis nach Solingen war weit. Er führte quer durch die hügelige Landschaft, voll von welligen Buckeln, wie von der Koloratur einer Opersängerin ins Bergische Land geschlagen. Ab und zu, wenn es ihr zu langweilig wurde, schupste meine Großmutter eine Kuh um. Groß und schlank gewachsen, hatte meine Großmutter dennoch kräftige, schnelle Beine. So benötigte sie nur ein paar Schritte Anlauf und die Kuh lag nach einem kurzen aber heftigen Stoß auf der Seite. In der Familie erzählt man sich, dass mein Großmutter einmal nach einem heftigen Streit mit meinem Großvater eine ganze Herde von vierzig Kühen innerhalb von wenigen Minuten umgeworfen habe. Danach sei sie seelenruhig wieder nach Hause gekommen und habe sich an den Küchentisch gesetzt, als sei nichts geschehen.

An jenem Sommertag in den 20ern muss sie meinem Großvater Paul irgendwann an der großen Schiffsschaukel aufgefallen sein. Die Schiffsschaukel war sein Reich. Zwölf Menschen, sechs auf jede Seite, passten in das violett und grün angemalte Boot. Um sie aus vollem Schwung zu bremsen, benötigte man fünf kräftige Männer. Opa Paul war der einzige, der es alleine schaffte. Dabei war noch nicht einmal groß, meine Großmutter überragte ihn um mindestens fünf Zentimeter, aber er bewegte seinen stämmigen Körper mit einer katzenartigen Gewandtheit. Anders als die anderen Schiffschaukelbremser ließ er die große Schaukel nicht frontal auf sich prallen, um sich dann wieder und wieder von ihr in die Höhe heben zu lassen, bis sie zum Stehen kam. Mein Großvater bewegte sich mit der Schiffsschaukel etwa in der gleichen Geschwindigkeit, wenn ihr Bug  dann seine breiten Schultern erreichte, reduzierte er immer stärker sein Tempo, bis die Schaukel sanft in ihrer Ruheposition angekommen war. Im Park war er nur als der König der Schiffsschaukelbremser bekannt.

Ich glaube, meiner Großmutter Gustel muss es gefallen haben, wie Großvater Paul so elegant die Schiffsschaukel bremste. Sonst hätte sie ihn nicht so heftig umgestoßen, als er sie umarmen wollte. Das konnte Opa Paul natürlich nicht auf sich sitzen lassen. Er, der König der Schiffsschaukelbremser, mitten in seinem Reich umgestoßen von einem Mädchen in einem Blümchenkleid. Er startete einen zweiten Versuch, bei dem er sie ein wenig halten konnte, bevor er wieder auf dem Boden landete. Auch der dritte und vierte Versuch endete für ihn eben da, wo schon die ersten beiden endeten. Nur konnte er, wenigstens manchmal, Großmutter Gustel ein wenig mehr halten. Genug zumindest, um es als kleinen Erfolg zu werten, der Hoffnung auf mehr machte. Es entspann sich ein heftiges Halten, Stoßen, Hinfallen, Aufstehen, Halten, Stoßen und Hinfallen. So vertieft waren die Beiden in ihren Zweikampf, dass sie die johlende Menge um sich herum schon lange nicht mehr wahrnahmen. Eine zeitlang verfolgten die Menschen das Gezerre und schlossen Wetten ab, wer aus dem Gefecht wohl als Sieger hervorgehen würde. Doch je länger es dauerte, desto mehr verlor das Spektakel für sie an Reiz und einer nach dem anderen wanderte ab in die große Halle. Einige schauten noch einmal kurz vorbei, bevor sie sich auf den Heimweg machten. Aber da der Kampf mit unvermittelter Intensität fortgeführt wurde und nichts auf ein Ende hinwies, trollten sie sich schnell wieder. Erst weit nach Sonnenaufgang, als die meisten der Parkbesucher schon oder besser noch friedlich in ihren Betten schliefen, erlahmten die Kräfte meiner Großeltern so langsam. Das Stoßen wurde weniger hart und das Halten weniger wild, bis sich schließen das Stoßen immer mehr zu einem Klaps, zu einer Berührung, zu einem Streicheln in einer sanften Umarmung entwickelte. Der darauf folgende Kuss dauerte ein Leben lang.

Irgendwann, als das Küssen und die Umarmungen es zuließen, dass man wieder unter Menschen ging, muss dann auch das vergilbte Foto entstanden sein. Mein Großvater gab übrigens die Schiffsschaukelbremserei auf, als mein Vater geboren wurde und verdiente den Lebensunterhalt für die kleine Familie als ehrbarer Schleifer, so wie es in Solingen damals üblich war. Das einzige, was er noch bremste, war der Kinderwagen, wenn in ihn meine Großmutter samt meinem Vater von unten aus dem Tal auf den Berg stieß, auf dem mein Großvater seinen Kotten hatte.

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