„Bochum hat einen sehr guten Ruf in der Tanzsportszene“. Ich musste kurz stutzen, als dieser Satz aus dem Radio herausfiel und dekorativ auf dem Tisch liegen blieb. Der Satz kam etwas überraschend. Eigentlich hatte ich dem Radio bis dahin keinerlei Aufmerksamkeit geschenkt. Aber ab und an passiert so etwas mit Sätzen. Sie reißen sich aus ihrem Zusammenhang und liegen plötzlich vor einem rum, so dass man nicht umhinkommt, ihnen Aufmerksamkeit zu schenken. Manchmal weiß man noch nicht einmal genau, wo sie herkommen. Erst kürzlich muss ein Satz beim Einkauf in meine Tasche gefallen sein. Ansonsten kann ich mir nicht erklären, wo „Ich hätte gerne hundert Gramm geräuchert“ herkam.
Nun also Bochum und sein Ruf in der Tanzsportszene. Vielleicht fiel mir der Satz aber auch vor die Füße, weil er mich an eine Episode am Bochumer Bahnhof erinnerte, die ich erfolgreich verdrängt hatte. Sie war einfach zu verstörend. Eigentlich begann alles recht harmlos. Ich war auf dem Weg zu einem geschäftlichen Termin eben im Bahnhof angekommen, stand nun, noch ziemlich verschlafen, auf dem Bahnsteig und wartete auf meinen Anschlusszug.
Vielleicht lag es an der frühen Uhrzeit, dass mir die fließenden Bewegungen, mit denen die Bochumer durch ihren Bahnhof glitten, nicht gleich aufgefallen sind, oder ich war in Gedanken schon zu sehr mit dem anstehenden Termin beschäftigt, ich weiß es nicht mehr. Ich schreckte zumindest erst hoch, als klassisch krächzend die Verspätung meines Anschlusszuges um gut 45 Minuten angekündigt wurde. Mein erster Ärger wegen der Verspätung verflog jedoch schnell, da in meiner Nähe gleich mehrere Bochumer begannen, ihrem Ärger zornig steppend Luft zu machen. Erst waren es nur zwei, drei Personen aber die Gruppe schwoll stetig an, bis schließlich rund 15 Personen unterschiedlichsten Alters und Geschlechts wild durcheinander steppten.
Und als sei das nicht merkwürdig genug, bewegte sich die Gruppe plötzlich gemeinsam in eine Richtung. Ein älterer Herr mit einem damenstrumpfhosenbeigen Gesicht und einem Stumpen im Mundwinkel hatte einen Bahnangestellten entdeckt und klackerte nun, die Beine in alle Richtungen werfend, samt der Gruppe hinter diesem her. Der Bahnangestellte hatte das ihm drohende Ungemacht all derweil bemerkt und versuchte sich drehend und windend wie ein Tangotänzer die Füße über den Boden schiebend zu entkommen. Es nützte ihm jedoch nichts. Die erboste Gruppe Steptänzer holte ihn ein und umringte ihn. Inzwischen waren sie in die irische Variante des Steptanzes verfallen und hüpften mit vorwurfsvoll durchgedrücktem Riverdance-Rücken aufgeregt vor ihm auf und ab, während sie lauthals über die Verspätung schimpften. Der Bahnangestellte, zwischen ihnen gefangen, trat wiederum unsicher im Foxtrott von einem Bein auf das andere.
Ich muss sagen, die Szene hatte mich zu tiefst verstört. Ganz abgesehen davon, dass der Bahnangestellte mit seinem traurigen Foxtrott ein Bild des Jammers war, überforderten mich die ärgerlich steptanzenden Bochumer. Doch gerade als ich mich umdrehte, um mir an einem Kiosk einen Kaffee zu gönnen, musste ich auch schon einem jungen Pärchen ausweichen. Das Pärchen schien sich längere Zeit nicht gesehen zu haben und fegte nun in ausgelassener Wiedersehensfreude einen Boogie Woogie über den Bahnsteig, was mein Ausweichmanöver entsprechend schwierig gestaltete.
So geriet ich dabei dann auch unversehens in eine wartende Gruppe Senioren, die bei einem langsamen Walzer in Gespräche vertieft waren. Bevor ich mich versah, wurde ich einen Wirbel von links- und rechtsdrehenden Paaren samt ihrer Gesprächsfetzen eingesogen und mitgedreht. Links herum: „Ich bring meinem Mann ja immer eine Leberwurst mit, wenn ich wegfahre. Die schmeckt ja überall anders“, rechts herum, „Herbert hat noch nie meinen Farbcode geknackt“ links herum „Früher war ich ja Illusionist, meine Dame. Manchmal mache ich mir noch selbst etwas vor“, rechts herum, „Und, Gerda welcher Hauttyp sind Sie?“, links herum, „Hast Du den Ozelot gefüttert, bevor wir aus dem Haus sind, Du weißt, dass er sonst wieder die Couch aufisst“.
Am Ende spie mich die Gruppe in einen Seitenarm der Unterführungstunnel aus, in dem bereits einige andere Auswärtige verloren herumstanden. Zumindest nahm ich an, dass es Auswärtige waren, denn alle standen still, es tanzte nur ein ungläubiger Schrecken in ihren Gesichtern. Eine alte Dame sandte einen Stoßseufzer zum Himmel: „Ein Glück hat Bochum keinen guten Ruf in der Musical-Szene, sonst hätten sei auch noch gesungen“….